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SWR2 Aula vom 27.05.2012
Ein Bild ist ein Bild – Wie funktioniert unsere Wahrnehmung
Von Martina Sauer
„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, dieses Sprichwort wird
unterstützt durch die Neurowissenschaften und durch
entwicklungspsychologische Theorien und Studien. Die besagen:
Menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen und Bildwahrnehmung im
Besonderen basieren in erster Linie auf vorsprachlichen Mustern, auf
bestimmten Gefühlen und Symbolen.
Und genau dieser Ansatz hat viele Konsequenzen für die Kunstgeschichte, die ja immer auch
fragen muss, wie wirkt ein Bild, was löst es im Betrachter aus,
wie kann man Bilder verstehen.
Dr. Martina Sauer ist
Kunstwissenschaftlerin, Dozentin für Kunstphilosophie und
Ästhetik; und sie beschreibt Aufgrund eigener Forschungen in der
SWR2 Aula diesen neuen Weg der Bildbetrachtung und Bildanalyse.
Martina Sauer: Wenn Sie meinen Gedankengängen folgen wollen,
müssen Sie sich zunächst von einem Vorurteil verabschieden.
Dieses Vorurteil besagt: Wenn ich ein Bild anschaue, das zum Beispiel
einen Wald zeigt oder einen Kirchturm, dann sehe ich zunächst
diese konkreten Objekte. Das aber ist genau genommen falsch, auch
wenn das schwer einzusehen ist.
Das, was Sie in einem Bild primär sehen bzw. wiedererkennen, und das, was Sie parallel auch in Ihrem
Alltag meinen zu erkennen, ist nicht das, was Sie wirklich sehen.
Um es in einem Satz vorweg zu sagen: Sie sehen eigentlich keine Dinge,
sondern abstrakte Muster und diese noch nicht einmal neutral, sondern
mit Gefühlen aufgeladen.
Und drittens sehen Sie nicht nur mit den Augen, sondern zugleich mit allen Sinnen. Das heißt, die
Wahrnehmung funktioniert abstrakt, affektiv und amodal!
So, wie wir denken, wir würden beim Betrachten eines Bildes konkrete
Gegenstände sehen, so glauben wir, wir könnten Werke der
bildenden Kunst interpretieren, indem wir uns auf erworbenes Wissen,
auf erprobte wissenschaftliche Methoden und begrifflichsprachliche
Fertigkeiten stützen. Es geht uns um kunst- und
kulturgeschichtliche Zusammenhänge, die für die Auslegung
als wesentlich angesehen werden. Kann man das Bild dem Barock
zuordnen, welcher Maler aus einer anderen Epoche hat die Bildsprache
mit beeinflusst, was bedeutet die komplizierte Tiersymbolik, wer
waren die Auftraggeber? Solche und andere Fragen stehen bei der
Interpretation meistens im Mittelpunkt der Analyse.
Es ist jedoch meiner Meinung nach genau diese Zugangsweise, die uns den adäquaten
Weg zur Kunst versperren kann. Sie entspricht zugleich unserer
selbstverständlich gewordenen Gewohnheit, alles, was wir sehen,
mittels Sprache als Dinge, als Objekte zu erfassen und zu
kategorisieren. Doch genau diese Gewohnheit blendet eine wichtige
Seite aus, auf die uns vor allem die Kunst aufmerksam machen kann.
Denn gerade Werke der bildenden Kunst, vor allem seit der klassischen
Moderne, gewinnen ihre Wirkkraft auf einer ganz anderen Ebene, auf
der Ebene einer dezidiert abstrakten und vor allem vorsprachlichen
Wahrnehmungsweise.
Aus: SWR2 Aula vom 27.05.2012
Ein Bild ist ein Bild – Wie funktioniert unsere Wahrnehmung
Von Martina Sauer